Für Monique als Denkanstoss für die Zukunft, Erich, 13. September 2000
Zu meinem Bekanntenkreis gehört eine alte Dame; etwas über neunzig Jahre ist sie alt, noch immer gut erhalten und geistig von einer beneidenswerten Rüstigkeit. Sie ist obwohl aus ganz einfachen Verhältnissen kommend und von jeher nicht sonderlich reich, eine Dame. Eine Dame in jenem guten Sinne, der besagen will, dass da in einem Menschen Lebensweisheit, Güte und klarer Verstand vereint sind.
Kurzum: Mit dieser alten Dame unterhalte ich mich gerne und oft. Dies schliesst nicht aus, dass ich mich nicht auch gern mit jungen Damen unterhalte – sofern sie Damen sind. Doch mit dieser Dame ist die Konversation ein Genuss. Zum einem komme ich mir, der das „Licht der Welt“ ein halbes Jahrhundert später erblicken durfte, noch fast ein Jüngling vor, zum andern kann ich mich bei ihr in der Kunst der Betrachtung üben. In einer sehr schönen Kunst.
Meine alte Dame hat – zum Unterschied zu vielen älteren und alten Menschen – ihr Leben nicht schon vor Jahren abgeschlossen, ich will sagen, sie lebt nicht nur aus der Erinnerung. Nein, diese alte Dame nimmt aufmerksam und rege Anteil an allem, was da um sie herum und in der Welt geschieht. Aber zum Nutzen derer, die ihr zuhören können, urteilt sie nicht, sie verurteilt auch nicht – sie erinnert sich nur.
Und zwar erinnert sie sich in einer Weise, dass man durch sie in die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg geführt wird, dass die damaligen Nachkriegsjahre, die Hitler-Zeit, den Zweiten Weltkrieg und alles, was danach auch noch gekommen ist, vor sich ausgebreitet sieht, als stünde man auf einem Hügel und sehe auf die Weltgeschichte herab.
Und mit einem Mal werden Figuren zu Figürchen, Führer zu Verführern, Politiker zu Witzfiguren und Streberlinge zu Hampelmännchen. Das Fazit lautet dann allemal: Und alles, alles ist schon einmal da gewesen.
Ich könnte mir denken, dass ein Mensch, der ein so hohes Alter in geistiger Frische erreicht und erlebt hat, sich resignierend abwendet. Doch nicht so meine alte Dame! Im Gegenteil: Sie führt den Blick stets wieder auf das Immerwährende – im Guten und im Bösen. Sie lässt verstehen, dass sich der Mensch wohl kaum je gewandelt hat, dass er wohl einmal – wenn der Lärm zu laut wird – erschrickt, doch dann gehts wieder weiter im alten Trott. Farben wechseln, Schlagworte kommen auf und gehen unter, Gesichter tauchen auf und verschwinden wieder. Da und dort bleibt sogar etwas im Triebsand der Zeiten hängen; doch das sind Werke von einzelnen begnadeten Menschen. Der grosse Strom fliesst weiter…
Und was denn ihr Rat wäre, an einen Menschen, der noch jünger ist als sie, habe ich einmal die alte Dame gefragt. Ihre Antwort war kurz und weise: Nimm die grossen Dinge weniger wichtig, die kleinen Freuden des Lebens geniesse aber! Wohl dem, der eine so grosse Weisheit wie meine alte Dame erreichen darf. Aber vielleicht muss man mit dieser Schule recht früh beginnen – am besten noch heute!
Unvergessen und immer wieder gerne gelesen. Danke Erich, wo immer du auch sein magst.
